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Sondershäuser SPD-Landtagsabgeordnete zeigt Richter an

Die Blindheit der Rechtssprechung

Donnerstag, 29. April 2021, 18:00 Uhr
Ein Richter am Familiengericht in Weimar hatte der Klage einer Mutter stattgegeben, die eine Aufhebung der Maskenpflicht für ihre zwei Kinder in der Schule forderte. Die Pflicht zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes hatte der Richter als „Gefährdung des Kindeswohls“ eingestuft und sein Urteil auf 180 Seiten begründet…



Die Entscheidung hatte in der Öffentlichkeit sowohl Jubel wie auch Entsetzen hervorgerufen. Gegner der Corona-Maßnahmen feierten den Mann als Helden, Befürworter warfen ihm Parteilichkeit und Amtsanmaßung vor. Das Weimarer Verwaltungsgericht hob das Urteil inzwischen auf und argumentierte, dass dem Familiengericht die Befugnis fehle, Anordnungen gegenüber Behörden und Vertretern von Behörden zu treffen, wie sie eine Schulleitung darstellt. Die Maskenpflicht an den beiden Weimarer Schulen wurde daraufhin wieder in Kraft gesetzt.

Bisher sind elf Anzeigen von Privatpersonen und Anwälten gegen den 58-jährigen Familienrichter wegen vermuteter Rechtsbeugung bei der Staatsanwaltschaft eingegangen. Eine der Anzeigen stammt von der Sondershäuser SPD-Landtagsabgeordneten Dorothea Marx.

Die Staatsanwaltschaft Erfurt geht nun von einem Verstoß gegen den Paragraphen 1666 Absatz 4 des Bürgerlichen Gesetzbuches aus, in dem festgehalten ist, dass ein Familiengericht zur Abwendung von Gefahren für Kinder „auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten“ treffen könne. Gerhard Strate, der Verteidiger des Weimarer Richters, plädiert jedoch darauf, dass sein Klient davon ausging, dass mit „Dritten“ auch öffentliche Institutionen wie Schulen gemeint wären. "Im Rahmen seiner richterlichen Unabhängigkeit konnte der Familienrichter diese Auffassung vertreten“, läßt sich Strate zitieren. Auf Grund eines offensichtlich bestehenden Anfangsverdachts durchsuchten Beamte der Erfurter Staatsanwaltschaft am Montagvormittag die Wohn- und Arbeitsräume des Amtsrichters in Weimar, sicherten Computer und ein Handy sowie andere Beweismittel.

Gestern erreichte unsere Redaktion unangefordert eine Selbstauskunft der stellvertretenden SPD-Kreisvorsitzenden des Kyffhäuserkreises, Dorothea Marx, in der sie zu ihrer Anzeige gegen den Weimarer Richter Stellung bezieht. Die ehemalige hessische Bundestagsabgeordnete ist selbst Rechtsanwältin und betreibt eine Kanzlei in Sondershausen.

Auf die Eingangsfrage „Warum haben Sie eine Anzeige gegen den Richter gestellt?“ antwortet Frau Marx dort sehr ausführlich: „Ausdrücklich NICHT wegen seiner inhaltlichen Auffassung zu den Corona-Schutzmaßnahmen. Diese steht ihm frei.
Ausdrücklich NUR wegen des Anfangsverdachts auf
  • Anmaßung der ausschließlichen Befugnisse eines Verwaltungsgerichts durch den Erlass von weit über die „Anregung“ der antragstellenden Mutter hinausgehenden eigenen Allgemeinverfügungen mit Wirkung für und gegen zwei Schulgemeinschaften, 
  • einer damit einhergehenden Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör und dem Abschneiden des Rechtswegs gegen seine Entscheidung für alle weiteren von seiner Entscheidung betroffenen Schüler und Eltern,
  • einer dafür unhaltbare Überdehnung des Anwendungsbereichs von § 1666 Abs. 4 BGB zu einem vermeintlich proaktiven Recht eines Familiengerichts zur allgemeinverbindlichen Regelung aller Angelegenheiten, bei denen eine Beeinträchtigung des Kindeswohls vorliegen könnte. Denn die logische Folge dieser Selbstermächtigung wäre, dass Familienrichter künftig z.B. auch Tempo 20 innerorts, ein Verbot von Windrädern oder aber auch von klimaschädlichen Technologien, Verbot von einseitigen News-Blogs oder kinderfreundliche Bebauungspläne anordnen könnten.   
  • Neben dem abgeschnittenen Rechtsweg für alle Betroffenen würde bei dieser Allzuständigkeit auch ein Regelungschaos entstehen, denn was soll bitte gelten, wenn der Richter im Nachbarzimmer (der für Kinder mit anderen Anfangsbuchstaben des Nachnamens zuständig ist) das Kindeswohl anders auslegt (Tempo 30 reicht), und die immer noch weiter originär zuständigen  Verwaltungsgerichte ganz anders entscheiden (kein Tempolimit)??
  • Absprache der geschilderten Umgehung des Verwaltungsrechtswegs mit anderen Verfahrensbeteiligten“
Weiter wird Dorothea Marx von Stefanie Maria Gerressen, der Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und Pressesprecherin der Thüringer SPD-Fraktion gefragt: „Was würden Sie einem Kritiker antworten, der eine solche Anzeige als bedenklich erachtet, weil sie die Trennung zwischen Exekutive und Judikative aufweicht?“ Und Gerressen fügt ihrer Frage die Bemerkung hinzu: „Staatsanwälte unterliegen den Weisungen des Justizministers. Durch eine Anzeige von einem Regierungspolitiker könnten sich Staatsanwälte unter Druck gesetzt fühlen, Ermittlungen einzuleiten.“
 
Dorothea Marx nimmt diese Vorlage auf und kontert: „Das glaube ich nicht und es liegt auch gar nicht in meiner Absicht. Das Recht, das Verhalten eines Richters daraufhin überprüfen zu lassen, ob er die Rechtsordnung und die Rechtsweggarantie Dritter nicht absichtlich durch angemaßte Kompetenzen durcheinanderwirbelt, muss auch einer Berufspolitikerin zustehen.

Kein Justizminister wird es wagen, „seiner“ Staatsanwaltschaft direkt oder indirekt Weisungen zu erteilen, wie sie mit meiner Anzeige oder Anzeigen anderer Berufspolitiker umzugehen hat. Zudem habe ich die Staatsanwaltschaft in meiner Anzeige zwar um Prüfung des Vorgangs gebeten, aber Ermittlungen oder gar eine Anklageerhebung nicht eingefordert. Darüber zu entscheiden ist allein Sache der Staatsanwaltschaft.  Durchsuchungen bedürfen einer richterlichen Genehmigung. Damit kann es hier schon per se zu keiner (staatsanwaltlichen oder sonstigen)  Willkür kommen. Ein Durchsuchungsbeschluss wird vom zuständigen Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft, und damit durch einen unabhängigen Richter erlassen.“     
 
Die abschließende Frage, ob ihr weitere Politiker von Thüringer Regierungsparteien bekannt seien, die den betreffenden Richter angezeigt haben, verneint Frau Marx.

Ihr Anwaltskollege und Richter Thorsten Schleif gibt auf YouTube in einem Video auf die Frage nach Anzeigen wegen Rechtsbeugung zu Protokoll: „Die Anzeige wegen Rechtsbeugung kommt immer dann, wenn jemand das Urteil nicht verstanden hat oder wenn er damit nicht zufrieden ist. Das sind ganz grob gesagt harmlose Spinner, die so was machen. Und von harmlosen Spinnern läßt man sich als Richter nicht einschüchtern.“

Der Sondershäuser CDU-Landtagsabgeordnete Stefan Schard ist ebenfalls ausgebildeter Jurist und benennt der nnz auf Nachfrage zum Weimarer Fall seine Sicht der Dinge: „Erst einmal muss klar unterschieden werden, dass wir hier einerseits die Anzeigen haben und andererseits die Durchsuchung von Amts- und Privaträumen. Wir müssen aufpassen, dass die Justiz jetzt nicht unter Generalverdacht gerät und Verschwörungstheorien angestellt werden. Hausdurchsuchungen müssen von einem unabhängigen Gericht angeordnet werden und es gibt immer einen begründeten Anfangsverdacht dafür.“

Nach Schards Rechtsauffassung sei das Familiengericht für die Klärung dieser speziellen Frage nicht zuständig gewesen. Er warnt davor, emotional und nicht rein sachlich an die Aufarbeitung der Vorfälle zu gehen. „Eine ordentliche Untersuchung muss zu Ergebnissen kommen, auf deren Grundlage eine Meinungsbildung erfolgen kann. Deshalb wollen wir als CDU-Fraktion den Fall auch im Justizausschuss des Thüringer Landtages auf die Tagesordnung setzen.“ Die Gemengelage und gegenseitigen Vorwürfe der Kontrahenten seien gefährlich, betont der Politiker, und dürfen nicht dem guten Ruf der unabhängigen deutschen Justiz schaden. Nach möglichen Gründen für eine Anzeige wegen Rechtsbeugung befragt, äußert sich Stefan Schard diplomatisch: „Die Gründe können vielfältig sein. Allerdings ist es ungewöhnlich, dass ein amtierender Richter so ins Fadenkreuz gerät.“

Warum eine Anzeige von Privatpersonen oder gar aktiven Mitgliedern der Regierungskoalition erfolgte, nachdem das umstrittene Urteil bereits vom Verwaltungsgericht Weimar einkassiert wurde, versteht er hingegen nicht. „Noch einmal, ich halte den ganzen Fall nicht für eine Justizverschwörung und will versuchen, über den Justizausschuss Klarheit zu gewinnen und die offenen Fragen ordentlich und zufriedenstellend zu untersuchen, damit keine Zweifel an der Unabhängigkeit unseres Rechtssystems und der Justiz bleiben“, bekräftigt der Volljurist mit der anerkannten Befähigung zum Richteramt am Landgericht Erfurt.

Auch der Nordhäuser Claus Peter Roßberg ist Rechtsanwalt und Kommunalpolitiker. Er kenne die Hintergründe dieses Falls nicht, sagt er uns am Telefon, aber für den Vorwurf der Rechtsbeugung müsse zwingend ein Vorsatz beim Angeklagten zu erkennen sein. Dem Weimarer Richter hätte seine Rechtsbeugung selbst bewusst sein müssen und dies müssten ihm die Ankläger dann im Prozess nachweisen können. „Offensichtlich“, so schlussfolgert Roßberg, „gibt es Anhaltspunkte, die beweisen, dass dem Richter seine Rechtsbeugung bewusst war, sonst hätte es kein Einschreiten der Staatsanwaltschaft gegeben.“

Merkwürdig findet der FDP-Politiker an dem Fall, dass der Richter angab, keine Zeit für ein mündliche Entscheidung gehabt zu haben, andererseits aber mehrere 140 Seiten lange Gutachten eingeholt wurden. Und in dieser Tatsache, so Roßberg, könnte eventuell einer der Gründe für die Durchsuchungen der richterlichen Räume zu finden sein.

Ob es zu einer Anklageerhebung gegen den Familienrichter auf Grund der gestellten Anzeigen kommen wird, ist momentan noch ungewiss. Frau Marx will das nach eigenem Bekunden gar nicht. Schard wie auch Roßberg glauben eher nicht daran und kennen kaum Präzedenzfälle von einer solchen Tragweite. Vielleicht kann der von Stefan Schard angesprochene Justizausschuss des Landtags etwas mehr Licht in die Angelegenheit bringen.
Olaf Schulze
Autor: osch

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