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Erinnerung zum „Tag der Deutschen Einheit“ von Christine Stauch

„Fühlt Euch frei und sagt, was ihr denkt“

Montag, 03. Oktober 2022, 07:00 Uhr
Anläßlich des heutigen Feier- und Gedenktages zur Wiedererlangung der Deutschen Einheit veröffentlichen wir hier die Erinnerungen einer ehemaligen DDR-Schülerin an ihren mutigen Lehrer …

In Erinnerung an den Ausspruch „Fühlt Euch frei und sagt, was ihr denkt!“ sehe ich meinen früheren Lehrer Lutz Trenkner vor der Klasse stehen – immer gut gelaunt, mit seiner Levi‘s-Jeans, an der er seinen auffälligen und ständig klimpernden Schlüsselbund trug. Das war in der 9. oder 10. Klasse, an der POS (Polytechnische Oberschule) „Thomas Müntzer“ in Ebeleben, Anfang der 1980er Jahre. Mit seiner Lässigkeit, vor allem aber mit seiner Offenheit, in der er scheinbar selbstverständlich über alles zu sprechen wagte, begeisterte er seine Schüler.
 
Der Lehrer Lutz Trenker heute in seiner Wohnung (Foto: L.Trenkner) Der Lehrer Lutz Trenker heute in seiner Wohnung (Foto: L.Trenkner)

Zu meiner Schulzeit unterrichtete Lutz Trenkner an dieser Schule das Fach ESP (Einführung in die Sozialistische Produktionsweise). Den pädagogischen Auftrag, an der Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten mitzuwirken, hatte er stillschweigend verändert, um in seiner Tätigkeit als Lehrer seine ihm wichtigen Werte zu vermitteln. Diese lagen vor allem darin seine Schüler für Offenheit und Lebensfreude zu begeistern. In Vorbereitung auf das spätere Leben war für ihn wesentlich uns zu ermutigen, uns als freie und selbstbewußte Menschen zu fühlen.
 
Mit seinem Stil, mit dieser Art und in dieser Freiheit zu reden, damit fiel er als Lehrer auf, setzte er sich in meiner Erinnerung von allen anderen Lehrerinnen und Lehrern ab. Man darf es als ein Zeichen seiner Verantwortung deuten, die er für seine vor ihm sitzenden Zöglinge empfand, wenn er seine Unterrichtsstunden nicht selten mit einer Warnung beendete: „Aber, denkt immer dran: Ich habe einen Bruder im Westen.“ Mit dieser Einschränkung gab er deutlich zu verstehen, dass es Folgen hat, wenn man wie er in diesem Land ein Leben in Freiheit anstrebt.
 
Daß Lutz Trenkner, kurz nach meiner Schulzeit im Jahr 1983 seinen ersten Ausreiseantrag in Familie, mit Frau und Sohn, stellte, in der Folge anschließend als „Karosserieklempner“ arbeiten mußte, war im Rückblick noch die kleinste Erniedrigungsmaßnahme, mit der das Machtsystem der DDR auf seine Entscheidung antwortete. Das alles habe ich aber erst viel später erfahren – konkret im Juni dieses Jahres, bei seiner Buchpräsentation in der Novalis-Diakonie in Ebeleben.
 
Nach einer sehr langen Zeit stand er nun wieder vor mir – 40 Jahre liegen dazwischen. Was mir bei dieser Begegnung am meisten auffiel: Diese Zwangsmaßnahmen, die der DDR-Staat infolge dieser persönlichen Entscheidung erließ, haben ihn bis in die Gegenwart menschlich erschüttert.
 
Und er muß darüber sprechen, was ihm widerfahren ist, angefangen von der Durchsuchung seiner Wohnung - an einem Februarmorgen im Jahr 1984, als völlig unerwartet acht Mitarbeiter der Staatssicherheit in seinem Wohnzimmer standen. Seine Frau, die damals als „Gemeindeschwester“ am Wohnort in Schlotheim arbeitete, war wie jeden Tag früh aus dem Haus gegangen, hatte die Tür nicht verschlossen. Er in diesem Moment noch im Schlafanzug… Sprechen von der noch am selben Tag erfolgten Verhaftung, auf dem Volkspolizeikreisamt in Mühlhausen, der Trennung von seiner Frau, von dem  anschließenden Aufenthalt in der Untersuchungshaftanstalt in Erfurt – den Verhöre, der Verurteilung zu einem Jahr und acht Monaten Zuchthaus. Von den physischen und psychischen Repressalien im Zuchthaus Cottbus, schließlich von der „Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR“ im September 1984, vollzogen im „Abschiebeknast“ Karl-Marx-Stadt, vom anschließenden ersehnten Wiedersehen mit seiner Frau, in einem Bus, mit dem sie zusammen mit anderen die Fahrt antraten. Über die Autobahn hinweg, an den Städten Gotha und Eisenach vorbei, zum Grenzübergang in Herleshausen, dann in die BRD. Erzählen von seinem nicht konfliktfreien Wiedereinstieg als Lehrer in Westberlin und davon, daß er es geschafft hatte, auf bundesdeutschem Boden seinen Traum von einem freien Menschen leben zu können.
 
Es ist für ihn heute noch sichtbar schwer zu ertragen, daß seine Frau, zur selben Zeit seiner Inhaftierung, im DDR-Frauengefängnis Hoheneck inhaftiert wurde - war es ursprünglich doch sein persönlicher Wunsch gewesen diesen Schritt zu gehen. Sie, die bis heute nicht über ihre dort erlebten Erfahrungen spricht, blieb an seiner Seite – bis zum heutigen Tag.
 
Und es standen ihm die Tränen in den Augen, als er auf seinen Sohn zu sprechen kam - daß die damaligen Spuren der Qualen bis heute in seiner Seele spürbar geblieben sind.
 
Und Lutz Trenkner muß auch offenlegen, daß sein mit ihm in der DDR verbliebener Bruder einen völlig anderen Weg beschritt, dass er als „IM Gerhard Schneider“ (IM: Informeller Mitarbeiter) ihn - seinen eigenen Bruder mit Familie - bespitzelte, an der Verhaftung und deren Folgen maßgeblich beteiligt war. Dass dieser Bruder nach eigener Ausreise im Jahr 1987 in die BRD weiterhin für den Staatssicherheitsdienst der DDR als IM „Maik Usko“ aktiv geblieben ist und bis zum Herbst 1989, dem friedlichen verlaufenden Zusammenbruch der DDR, aus dem Westen heraus, nun über beide Brüder, Berichte verfasste.

Dieses Wissen, das Lutz Trenkner erst nach Einblick in seine Stasi-Akte, in den 1990er Jahren erhielt, führte in Verbindung mit seinem traumatisch endenden Leben in der DDR zu einem tiefen Riß in seinem Inneren.
 
In Erinnerung sehe ich noch einmal den Lehrer Lutz Trenkner vor der Klasse stehen, wie er uns bei jeder Möglichkeit ermutigt hat danach zu streben, daß jeder Mensch in Freiheit leben solle. 
 
Der Tag der Deutschen Einheit ist ein wichtiger Feier- und Gedenktag. Allein nach den geschilderten Erfahrungen von Lutz Trenkner kann dieser Tag nicht nur ein Fest zur Freude sein. In diesen Stunden ist es zudem wichtig, jenen Menschen zu gedenken, die um diese Zeitenwende gerungen haben. Dieser Tag gibt auch die Gelegenheit Danke zu sagen, dem Lehrer Lutz Trenkner, allen Menschen der ehemaligen DDR und der anderen ehemaligen sozialistischen Länder Europas, die nicht aufgegeben haben, ihrem Lebensimpuls zu folgen – allen Widrigkeiten zum Trotz – und so den politischen Umsturz 1989 friedlich mit herbeigeführt haben. Ohne sie wäre die Deutsche Einheit, wäre Freiheit und Demokratie in ganz Deutschland, ja, in der Folge in den meisten ehemaligen sozialistischen Ländern Europas nicht möglich geworden.
 
Lutz Trenkner hat seine Erfahrungen in einem Buch „Operation „Dozent“ – Aller Anfang ist schwer“ veröffentlicht, das ausschließlich in der Druckerei Erdenberger in Schlotheim erhältlich ist.
Christine Stauch
Autor: red

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